Claudia Öhlschläger on Rick Gray

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Claudia Öhlschläger
Prof. Dr. Claudia Öhlschläger, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn
Rick Gray
Rick Gray

 

Lieber Rick,

ich widme Dir ein Kernstück eines Beitrags zur Ethik der Scham bei Adalbert Stifter, den ich schon vor längerer Zeit geschrieben habe. Stifter, Kafka, Sebald sind Autoren, die, wie ich weiß, uns beiden gleichermaßen am Herzen liegen. Sie lassen das Zögern zu, wo scheinbar Handlungsnotwendigkeit besteht, sie eröffnen Räume der Distanz, wo sich das Detail buchstäblich aufdrängt, sie bewahren eine Fremdheit in der Sprache dort, wo das Subjekt ganz sicher über diese zu verfügen glaubt. Zu Deiner Pensionierung wünsche ich Dir auch für die Zukunft Freiräume des Innehaltens und Denkens.

Deine Claudia

 

„Die Distanz bewohnen“

Pier Aldo Rovatti stellt in seiner 1994 entstandenen Studie Abitare la distanza (Die Distanz bewohnen, 1999)[1] im Zusammenhang einer neuen Verhältnisbestimmung von Sprache und Subjekt ein Konzept von Scham vor, das die Konnotation von Schuld in den Hintergrund stellt und den Begriff „pudor“ für das Denken einer „Ethik“ stark zu machen versucht. Rovatti führt die Scham unter dem lateinischen Begriff „pudor“ ein: pudor meint einerseits „Scham“, andererseits die Bewegung des „Sich-Zurückziehens“, ohne dass dies mit Rückzug oder Zurückgezogenheit analog zu setzen wäre.

Wir sprechen von einem pudor, der zugleich schamhaft und schamlos sein kann, der aber weder das eine noch das andere noch beides zugleich ist. Wir setzen ihn in Anführungszeichen, wir könnten ihn auch in Klammern aussprechen und schreiben, als würde dem Wort „pudor“ eine Suspension, ja geradezu ein pudor entsprechen. (R, 27)[2]

Eine „Ethik“ wird für Rovatti dort denkbar, wo die Spannung zwischen dem Identifikationswunsch des Subjekts und der Unmöglichkeit seiner Realisation in der Sprache ausgetragen wird. Rovatti geht in seiner Studie Die Distanz bewohnen (Abitare la distanza, 1994) von der Annahme aus, dass die Identifikation zwischen Subjekt und Sprache  Brechungen ausgesetzt ist, die als sprachinterne Bewegungen beobachtet werden können. Rovatti fragt von hier ausgehend danach, wie sich Schwere und Leichtigkeit in der Sprache miteinander verbinden können. Die Leichtigkeit könne sich in der Schwere dort entfalten, wo eine Distanz in das Denken und in die Sprache eingebracht werde. „Durch den Gebrauch, den wir von der Sprache machen, einen Spielraum, einen bewohnbaren Ort bestimmen oder konstruieren.“ (R, 27) Wie könnte der Gebrauch einer solchen Sprache aussehen? Rovatti macht den Vorschlag, eine Pause, eine Unterbrechung, ein Zögern in die Ordnung des Sprechens einzuführen. Linguistisches Zeichen einer solchen Störung ist die Klammer, die das Eingeklammerte ausschließt, ihm aber andererseits durch die Einklammerung einen besonderen Status innerhalb der Sprachordnung zuweist: Mit der Klammer versucht das Denken, „sich einen Raum im Wort zu öffnen: eine ´Distanz´ in die Buchstäblichkeit einzuführen.“ (R, 29) Ein anderes Beispiel für die sprachliche Distanznahme, die sich bei Rovatti im linguistischen Zeichen manifestiert, wären die Anführungszeichen,  die Kursivsetzung oder gar die Metapher, in der sich das Bild vom Signifikat entfernt. Dieser Distanz entspricht der „pudor“ als Geste der Zurückhaltung und des Zögerns, und in ihm verwirklicht sich etwas, das Rovatti  - ebenfalls wieder in Anführungszeichen gesetzt und damit mit Distanz markiert - „Ethik“ nennt. (R, 30) Diese „Ethik“ entfaltet sich immer auf der Ebene der Sprache, sie wird gewissermaßen zu einer Sprachgeste, die aus einer Reihe von Spracheffekten hervorgeht und solche Effekte wiederum hervorbringen wird.[3] „Ethik“ schließt bei Rovatti das Wissen um die Dezentriertheit des Menschen ein, ja, sie begründet sich geradezu von der Prämisse her, dass sich derjenige täuscht, der glaubt, über die Sprache herrschen, über sie verfügen zu können. Sprache wird bei Rovatti somit zum Modus der Distanzierung vom eigenen Selbst, und diese Distanzierung eröffne die Möglichkeit, die Einstellung zu wechseln. (R, 34) Paradoxerweise würde sich eine Ethik in der Sprache also gerade dort entfalten können, wo sich das Sprechen dem Sprecher entzieht, wo die Fremdheit der Sprache, eine Art Fremdsprache im eigenen Sprechen, Einzug hält. Eine Spielart dieser Distanzierung ist das Schweigen.[4] Was kann es heißen, das Schweigen in das Wort einzuführen, wo es doch spricht? Ein Kernbegriff, den Rovatti hier einführt, ist der des Zögerns: Ein Innehalten, ein Moment des Aufschubs, der es erlaubt, dem Mechanismus Aktion/Reaktion zu entkommen und der, wie ein Vorhang, der niederfällt, die Augen öffnet für die Widersprüchlichkeit, in der sich das sprechende/angesprochene Subjekt befindet: Denn das Subjekt wiege sich in der Illusion, in der Sprache aufgehoben zu sein, wo es doch immer außerhalb der Sprache bleiben müsse.

Die pathische Befindlichkeit des pudor, die Einführung des Schweigens in das Wort, eines Zögerns in die Aktion (damit es nicht unmittelbar eine Reaktion ist), ist die Möglichkeit, die wir haben, die Augen vor der Widersprüchlichkeit aufzureissen, in der wir uns befinden und die wir de facto sind. [...] Die Klammer, die wir öffnen, ist weder eine Flucht noch eine Verdoppelung noch das Versprechen einer Erlösung [...] nur unter der Bedingung, dass es uns gelingt, sie in der Sprache zu öffnen, die uns immer schon spricht, oder auch in der Distanz. (R, 194) [5]



[1] Pier Aldo Rovatti: Die Distanz bewohnen. Für eine Ethik der Sprache. Aus dem Italienischen von René Scheu. Mit einer Einleitung von Giovanni Leghissa. Wien 1999. Diese Textausgabe wird im Folgenden mit der Sigle <R> zitiert.

[2] Der Übersetzer gibt an, dass Suspension/suspendieren die italienische Übersetzung der Husserlschen epoché sei, die Husserl je nach Kontext mit „Ausschaltung“, „Außerkraftsetzung“ oder „Einklammerung“ paraphrasiert: „Um die Bedeutungsvielfalt der italienischen sospensione zu wahren, die alle genannten Bedeutungen in einem Wort verdichtet“, wurde sospensione mit Suspension übersetzt. (R, 194)

[3] Rovattis Theorie überschreitet den Horizont der Hermeneutik. Die Regeln des Sprechens vollziehen sich nicht vor einem Erwartungshorizont, in dem Frage und Antwort einander zugeordnet sind. Es bleibt ein Rest an Deutbarkeit von Welt übrig, der wie Rovatti mit Nietzsche sagt, „das ganze Gewicht der Sprache ausmacht“. (R, 30f.)

[4] Pier Aldo Rovatti: L´esercizio del silencio. Cortina 1991.

[5] Ich will hier nur andeuten, dass Rovattis Konzept eines „schwachen Denkens“ (il pensero debole) mit seinem Verständnis eines Subjekts, das sich an der Grenze der Souveränität seines eigenen Sprechens bewegt, sowohl von Gregory Bateson (G. Bateson; M.C. Bateson: Wo Engel zögern: unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen, 1987) wie auch von Jacques Lacan inspiriert ist.

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